Wissenschaftsgeschichte der Arzneimittel

Geschlecht – Wissen – Macht – Körper sind Themen der Forschung von Bettina Wahrig

Prof. Dr. Bettina Wahrig vor Bücherregal
Foto: Phoebe Wackerhagen

Seit ihrem Ruf an die TU Braunschweig im Jahr 1997 steht Geschlecht im Fokus der Forschung zur Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte von Prof. Dr. Bettina Wahrig. Sie erforscht aus wissenschaftshistorischer Perspektive Stoffe, besonders Arzneimittel und Gifte, aber auch Prozesse, wie z.B. die Geburt, Vergiftungen oder wissenschaftliches Experimentieren. Dabei fehlt in der Vermittlung ihrer Forschungsergebnisse selten der Humor, wie einige ihrer Titel verraten: „Derrida hat Nietzsches Regenschirm verloren“ (Beitrag in Nietzsche-Studien 2023) und „Arsen macht schön“, eine erste Studie zu „Prekäre Identitäten – Gift und Vergiftung als wissenschaftliches Sujet“ (DFG-Forschungsprojekt, gemeinsam mit Prof. Dr. Heike Klippel, HBK Braunschweig). Im kürzlich gehaltenen Vortrag „Starkes Gift: Arsen als Stoff für Alltag und Krimi“ im phaeno in Wolfsburg führt Wahrig vor Augen, wie spannend ihre Erkenntnisse auch für eine breite Öffentlichkeit sind.

Als Wissenschaftshistorikerin interessiert Bettina Wahrig, wie wissenschaftliches Wissen funktioniert, was die Wissenschaftler*innen antreibt, etwas zu erforschen (oder eben nicht) und welche Stolpersteine es auf konkreten Wegen der Wissensgenerierung gibt.

Der Geschichte der Vergiftung auf der Spur

Pharmakologische Verwicklungen zwischen Geschlecht und Substanz haben Bettina Wahrig in dem kooperativen Forschungsprojekt „Prekäre Identitäten: Gift und Vergiftung in Wissenschaft und Film“ beschäftigt. Jedes Teilprojekt für sich und beide gemeinsam untersuchten mit fachspezifischen Methoden Konzepte, Vorstellungen und Erzählungen im Zusammenhang mit Giften und Vergiftungen. Dabei wurde deutlich, dass der Film im 20. Jahrhundert (Teilprojekt Klippel) auf das Motivrepertoire zurückgreift, das seit der europäischen Frühen Neuzeit in Literatur und Wissenschaft nachweisbar ist (Teilprojekt Wahrig).

Beide Projekte fragen nach expliziten und impliziten Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit im Zusammenhang mit Giften, Vergiftungen, Vergiftenden und Wissenschaftler*innen. Zentrale Forschungsfrage für das wissenschaftshistorische Projekt von Wahrig ist die Interaktion zwischen wissenschaftlichen und kulturellen Praktiken und Konzeptualisierungen von „Gift“ und „Vergiftung“ in einer longuedurée-Perspektive. Der Untersuchungsschwerpunkt lag auf der Zeit zwischen dem späten 18. Jahrhundert und der Wende zum 20. Jahrhundert.

Für die These, dass in den Diskursen über exotische Gifte aus der Neuen Welt die Angst der Sieger vor der Rache der Besiegten mitschwingt, hatte Silvia Micheletti in ihrer von Bettina Wahrig betreuten Dissertation über das Pfeilgift Curare Belege gefunden. Mit dem Motiv der giftmordenden Frau werden geschlechterstereotype Zuordnungen vorgenommen; die Vorstellung, Frauen hätten eine stärkere Neigung zum Gift als Mordwaffe, ist jedoch empirisch nicht haltbar. Dies konnte Julia Saatz anhand von historischen Vergiftungsfällen in ihrer Dissertation im Projekt zeigen. Gift in der Hand des „schwachen“ Geschlechts scheint eine ähnliche Bedrohung auszudrücken wie der Curare-Pfeil im fernen Südamerika.

Klippel, Heike/ Wahrig, Bettina/ Zechner, Anke (2017) (Hg.): Poison and Poisoning in Science, Fiction and Cinema. Precarious Identities. Cham: Palgrave Macmillan. (Inhaltsverzeichnis)
Saatz, Julia (2018): Vergiftungsfälle in Wissenschaft, Justiz und Öffentlichkeit. Giftnarrative zwischen 1750 und 1850. Braunschweiger Veröffentlichungen zur Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 56. Stuttgart: Deutscher Apotheker-Verlag.
Micheletti, Silvia (2014): Experimentalisierung und internationale Kommunikationen: Der Fall Curare. Braunschweiger Veröffentlichungen zur Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 52. Stuttgart: Deutscher Apotheker Verlag.>

Arzneimittel aus der Hand von Frauen – umstrittene Kompetenzen von Heilenden und Helfenden

Pharmazie ist heute ein Studium, das mehrheitlich von Frauen angewählt wird, aber wie steht es mit der historischen Rolle von Frauen in der Arzneimitteltherapie? Im Rahmen ihrer Professur für „Geschichte der Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte“ versucht Bettina Wahrig, den offensichtlichen und untergründigen Beziehungen zwischen Arzneimitteln und Geschlechterverhältnissen auf die Spur zu kommen.

Der Frage nach den Beziehungen von Wissen, Macht und Geschlecht ging sie v.a. im historischen Geflecht einer Professionalisierung der Heilberufe und der mit diesem Prozess verbundenen geschlechtsbezogenen Ein- und Ausschlüsse im 18. Jahrhundert nach.
Hebammen wurden zunächst vom Gebrauch von Instrumenten, dann auch von der Anwendung von Medikamenten in der Geburtshilfe ausgeschlossen. Dabei lässt sich zeigen, dass ihr haptisches, über ihre Hände gewonnenes, und über Generationen überliefertes Wissen über den weiblichen Körper und das Gebären der entstehenden männlich dominierten akademischen Geburtshilfe zunächst nicht zur Verfügung standen, was deren Entwicklung behinderte.

Während der Hebammenberuf traditionell weiblich war und später in seiner akademisierten Form Frauen exkludierte, wurden in der Pharmazie Frauen in Mittelalter und Früher Neuzeit neben den Männern geduldet. Im 18. Jahrhundert wurden sie jedoch aus dem Apothekerberuf offiziell ausgeschlossen, bis sie 1899 wieder Zugang zu ihm bekamen. Pharmazeutisch tätig konnten Frauen ab dem 18. Jahrhundert nur an einem Kloster sein. Ihr mündlich überliefertes Wissen wurde kleingeschrieben. „Aus Großmutters Handkörbchen“ sollte das Wissen, das Frauen in pharmazeutischen Dingen hatten, stammen, so behaupteten akademische Ärzte, die selbst in der Öffentlichkeit auch nicht immer gut angesehen waren. Daher wollten Wissenschaftler „herausgefunden“ haben, wie die Natur den Geist der Frauen benachteiligt hatte. Die Ordnung der Natur und die Ordnung der Geschlechter haben sich immer wieder gegenseitig bestätigt, selbst wenn sich diese Ordnungen ständig änderten.

Wahrig, Bettina (2011): Von der „weisen Frau“ zum Gesundheitsberuf: Ausschnitte aus der Geschichte der Geburtshilfe. In: Boeck, Gisela/ Lammel, Hans-Uwe (Hg.): Frauen in der Wissenschaft. Rostock, 59-80. (zum pdf)
Wahrig, Bettina (2013): Clocks with Hands: Instruments, Hands and Parturients in a Changing Horizon of Time, in: History and Philosophy of the Life Sciences 35, S. 62-67. (zum pdf)
Wahrig, Bettina (2014): Zeit der Aufklärung: Instrumente und Hände in der Geburtshilfe des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In: Stauf, Renate/ Berghahn, Cord-Friedrich (Hg.): Wechselwirkungen. Die Herausforderung der Künste durch die Wissenschaften. Heidelberg, S. 99-111.

„Arzneien für das schöne Geschlecht“

Mit Kolleg*innen begab sich Bettina Wahrig auf die Suche nach chemisch und pharmazeutisch tätigen Frauen, die auch publiziert haben. In Projektseminaren in den Räumen der Herzog August Bibliothek konsultierten sie regelmäßig das Arzneibuch der Rosalia Maria Eleonore von Troppau mit dem schönen Titel „Der aufgesprungene Granatapfel“ (zuerst 1696). Es ist inzwischen allgemein akzeptiert, dass zeitaktuelles pharmazeutisches Wissen von Frauen nicht auf Ausnahmegestalten wie Hildegard von Bingen beschränkt war. Am Wolfenbütteler Hof steht der Anfang der dortigen Hofapotheke im 16. Jahrhundert ganz unter dem Zeichen der ersten Fürstinnen, wie Gabriele Wacker in einem Kooperationsprojekt zwischen der Abteilung für Pharmaziegeschichte von Prof. Wahrig und der Herzog August-Bibliothek gezeigt hat.
Aber wie gehen wir mit der Frage des „Lebens“, der Biographie, der „Individualität“ im Kontext der Geschlechterforschung um? Ist die Übertragung des Genres der Einzelbiographie, die in der Wissenschaftsgeschichte, aber auch in der Kunstgeschichte oder anderen Disziplinen häufig genug zu einer „Heldensaga“ wurde, überhaupt noch zukunftsweisend?
Dazu hat das Braunschweiger Zentrum für Gender Studies anlässlich der ersten Maria-Goeppert-Mayer-Gastprofessuren mit Dr. Renate Tobies eine Konferenz veranstaltet, zu dem der Sammelband „LebensBilder“ mit Beiträgen entstand, die das Thema aus unterschiedlichen Facetten beleuchten.

Brombach, Sabine/Wahrig, Bettina (Hg.) (2006): LebensBilder. Leben und Subjektivität in neueren Ansätzen der Gender Studies. Bielefeld: transcript
Wacker, Gabriele (2013): Arznei und Confect. Medikale Kultur am Wolfenbütteler Hof im 16. und 17. Jahrhundert. Wiebaden: Harrassowitz. Siehe auch die gleichnamige Datenbankdokumentation
Wahrig, Bettina (2004): Querelles des Femmes und Querelles de Santé: Geschlechterstereotype und die „medizinische Polizei“ 1750-1800. In: Engel, Gisela/ Hassauer, Friederike (Hg.): Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne. Königstein: Ulrike Helmer, S. 88–101.
Wahrig, Bettina (Hg.) (2004): Arzneien für das „schöne Geschlecht“. Geschlechtsverhältnisse in Phytotherapie und Pharmazie vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Braunschweiger Veröffentlichungen zur Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 44. Stuttgart: Deutscher Apotheker-Verlag. (zum Inhaltsverzeichnis)

Geschlechterblinde Arzneimittelforschung

Mit der Pharmakologin Ljiljana Verner (Medizinische Hochschule Hannover) und später mit dem Pharmazeuten und bei Wahrig promovierten Wissenschaftshistoriker Dominik Merdes wurde an der Abteilung Pharmaziegeschichte das Thema „Arzneimittel und Geschlecht“ in historischer und aktueller Perspektive weiter erforscht. Sie fragten, warum Arzneimittelforschung des 20. Jahrhunderts so lange geschlechterblind war. Erst Ende der 1990er Jahre in den USA und Anfang der 2000er Jahre in Europa wurden Normen durchgesetzt, nach denen bei der Entwicklung von Arzneimitteln auf unterschiedliche Bedürfnisse der Geschlechter berücksichtigt werden sollen. Arzneimittel werden aber nicht nur „verordnet“, sie werden „angewendet“, „konsumiert“, sind Teil komplexer Verhältnisse in denen Menschen, Artefakte und Institutionen eine Rolle spielen, beeinflusst von Verhaltensweisen und Verhältnissen der Menschen zum eigenen Körper. Schließlich muss „Geschlecht“ in der Verwicklung etwa mit Alter, sozialer und kultureller Verortung gesehen werden.

Merdes, Dominik (2019): Die Produktion eines Pharmakons. Eine Kartographie der Kala-Azar und der Antimonialien. Stuttgart: Deutscher Apotheker Verlag.
Verner, Ljiljana/ Voss, Angelika (2004) The importance of the parameter sex & gender in anesthesia and intensive care medicine dealing with patients under alcohol influence. In: Wiener Medizinische Wochenschrift 154, S. 433-238.

Arzneimittelgeschichte – global gesehen

Materialities of Medical Cultures in/between Europe and East Asia” war ein von Bettina Wahrig mit organisiertes Verbundforschungsprojekt (2018-2021), das vom Ministry of Science and Technology (Taiwan) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurde. Wissenschaftshistoriker*innen und -soziolog*innen aus Deutschland und Taiwan tauschten sich in mehreren Konferenzen zu den materiellen Kulturen des Heilens aus. Die Gruppe, die nach der Förderung weiter zusammenarbeitet, interessiert sich für strukturelle Verwandtschaften und Differenzen zwischen den verschiedenen Heilkulturen und -konzepten, aber auch für Momente einer komplexen Beziehungsgeschichte. Hierzu zählt die Geschichte der Kolonialmedizin, aber auch die Nutzung des Wissens um Heilpflanzen wie etwa der Angelika sinensis, die in Europa als „Eumenol“ mit frauenheilkundlicher Indikation durch die Firma Merck vertrieben wurde. Auch die Ähnlichkeiten und Differenzen des Umgangs mit der menschlichen Plazenta sind ein spannendes Thema, das gerade gemeinsam von Bettina Wahrig und Hsiu-fen Chen untersucht wird. Die bisherigen Ergebnisse tragen sie auf der Konferenz der International Society for the History of East Asian Science, Technology, and Medicine in Frankfurt im August 2023 im Panel 15 „Materialities of Animal Drugs in Comparative Perspectives between China and Europe“ vor.

Und noch vieles mehr

Mit diesen Punkten ist die umfassende wissenschaftliche Tätigkeit von Bettina Wahrig in den Gender Studies bei weitem noch nicht abgedeckt. Sie hat entscheidend zu den Debatten feministischen Science and Techno Studies beigetragen – und auch zur Aufarbeitung der Geschichte der TU Braunschweig durch ihre Publikation „Naturwissenschaft, Gleichstellung und Gender Studies an der TU Braunschweig. Interviews mit fünf Wegbereiterinnen“ beigetragen. Einen ausschnitthaften Überblick über ihre wissenschaftlichen Aktivitäten in den Gender Studies findet sich hier.

Wahrig, Bettina (Hg.) (2018): Naturwissenschaft, Gleichstellung und Gender Studies an der TU Braunschweig. Interviews mit fünf Wegbereiterinnen. Braunschweiger Veröffentlichungen zur Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte, Band 58. Stuttgart: Deutscher Apotheker

Zur Person

Prof. Dr. Bettina Wahrig

Technische Universität Braunschweig
Abt. für Geschichte der Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte
Beethovenstr. 55
38106 Braunschweig
Telefon: 0531-391 5990
E-Mail: b.wahrig@tu-braunschweig.de

www.tu-braunschweig.de/pharmaziegeschichte

Forschungs- und Lehrschwerpunkte:

  • Wissenschafts- und Kulturgeschichte der Gifte
  • Geschichte der Toxikologie
  • Geschichte des Gesundheitswesens
  • Metaphorologie und Wissenschaftsgeschichte
  • Arzneimittel und Geschlecht in historischer Perspektive

Bettina Wahrig hat das Braunschweiger Zentrum für Gender Studies (BZG) 2003 mit gegründet und ist seitdem eine tragende Säule seiner Aktivitäten. In den letzten Jahren hat sie u.a. das Promotionskolleg „Konfigurationen von Mensch, Maschine und Geschlecht. Interdisziplinäre Analysen zur Technikentwicklung (KoMMa.G)“ mit Prof. Dr.-Ing. Corinna Bath beantragt und von von 2017 bis 2022 als stellvertretende Sprecherin geleitet. Sie hat zudem mit dem BZG gemeinsam die MGM-Professur „Gender, Technik und Mobilität“ beantragt, die Corinna Bath von 2012-2022 inne hatte, und die Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt von 2015-2020 aktiv mitgestaltet u.a. durch die gemeinsame Publikation Ozeanisch Schreiben. Sie ist seit Gründung Mitglied des Lenkungsausschusses.