Empfehlungen des Wissenschaftsrats 2023
Seit zwei Wochen liegt das Ergebnis der Strukturbegutachtung der Geschlechterforschung vor. Dem umfänglichen Bericht des Wissenschaftsrates (WR) ist eine Kurzfassung vorangestellt, die die zentralen Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Geschlechterforschung in Deutschland auf sechs Seiten auf den Punkt bringt. Die wichtigsten Ergebnisse sind auch im Pressegespräches vom 10. Juli nachzuhören.
Ein längerer Blick in die 150 Seiten lohnt sich. Der Bericht gibt Aufschluss darüber, was die Hochschulen tun müssen, um die Geschlechterforschung adäquat zu institutionalisieren und so die Forschung international wettbewerbsfähig zu machen. Das Braunschweiger Zentrum für Gender Studies wurde für die Strukturbegutachtung ebenfalls befragt.
Stimmen aus der Pressekonferenz
Geschlechterforschung als Chancenentwicklung aller Wissenschaften
„Wir als Wissenschaftsrat sehen in der Geschlechterforschung ein dynamisches und auch international zukunftsträchtiges Forschungsfeld mit großer Transferrelevanz. Wir glauben, dass sich Geschlechterforschung für die Wissenschaft aber auch die Gesellschaft lohnt“ (Wick im Pressegespräch ab Min. 9:40).
Wolfgang Wick, Vorsitzender des WR, leitet diese Aussage aus der fundamentalen Bedeutung der Geschlechterfragen für die Wissenschaft, die Gesellschaft und alle Menschen ab. In der Geschlechterforschung gehe es „um Fragen des Geschlechts und der Geschlechterdifferenzierung und -verhältnisse, die für das Selbstverständnis jeder Person und für das Selbstverständnis und die Selbstaufklärung jeder Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind. Diese Fragen betreffen uns als Menschen in ganz unmittelbarer Weise“ (ab Min. 4:48). Geschlechterforschung helfe, Zusammenhänge zu verstehen und eröffne damit Handlungsoptionen. Sobald Menschen miteinander [oder mit Maschinen und Artefakten, Anm. JW] interagieren, würden Geschlechterfragen eine Rolle spielen. Sie helfe damit, unsere Umwelt interaktiv zu gestalten. Dieses begründet ihre fundamentale Bedeutung für die Wissenschaften. „Die Fragen des Geschlechts und der Geschlechterverhältnisse betreffen aus unserer Sicht – in unterschiedlichem Maße zugegebenermaßen – alle Wissenschaftsdisziplinen und zwar nicht optional oder als add on, sondern in ihrem Wesenskern“ (ab Min. 7:06).
In etwas anderer Formulierung hebt Wick folgende Aussage aus dem Bericht hervor: „Forschung, die sich mit gesellschaftlichen Phänomenen, Menschen und ihren Artefakten befasst, kann nur dann einen adäquaten Komplexitätsgrad und eine hohe Qualität erreichen, wenn sie Gesellschaft nicht als einen geschlechtsfreien Raum und Menschen nicht als geschlechtslose Wesen betrachtet“ (WR 2023, S. 7). Dieses sei vom WR als Ermunterung, als Chancenentwicklung für wissenschaftliche Fachgemeinschaften, Hochschulleitungen, Forschungseinrichtungen sowie einzelne Wissenschaftler*innen gemeint; die Geschlechterforschung biete allen Disziplinen Potential zur methodischen und thematischen Weiterentwicklung.
Integration in Forschung und Lehre – Schaffung verlässlicher institutioneller Strukturen – Ausbau der Zertifikate
Margit Szöllösi-Janze, Leiterin der WR-Arbeitsgruppe, verweist darauf, dass der WR zur Erstellung der Empfehlungen – erstmalig für Deutschland – eine Sondierung und Kartierung der Geschlechterforschung erstellen musste. Die dabei ersichtliche Breite an Fragestellungen und ihre Unterschiedlichkeit kann nicht von einer einzelnen Disziplin erarbeitet werden, sondern muss mindestens multidisziplinär, idealerweise interdisziplinär erforscht werden.
Insgesamt verweist Szöllösi-Janze besonders auf folgende Punkte hin:
- Der WR empfiehlt, Geschlechterforschung stärker in Forschung und Lehre zu integrieren; gerade im internationalen Vergleich besteht hier noch Nachholbedarf. Dieses gilt insbesondere für die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, die Natur-, Ingenieur- und Technikwissenschaften, die Informatik sowie die Medizin, Gesundheits- und Lebenswissenschaften.
- Der WR verweist auf die Notwendigkeit, die Institutionalisierung auszubauen: „Erfolgreiche Forschung bedarf generell verlässlicher institutioneller Strukturen“. Dies umfasst folgende Maßnahmen:
– Professuren mit Genderdenomination dauerhaft auf- und auszubauen
– Zentren und Netzwerke verlässlich mit ausreichend finanziellen Mitteln und entfristeten Personal auszustatten
– in der außerhochschulischen Forschung Geschlechterperspektiven zu institutionalisieren
– Forschungsknoten herauszubilden, d.h. eigene interdisziplinäre, international konkurrenzfähige und inhaltlich komplementäre Zentren der Geschlechterforschung
Erst durch diese komplementären Maßnahmen kann die fächer-, methoden- und einrichtungsübergreifende Zusammenarbeit intensiviert werden. - Zertifikatsprogramme sollten weiterentwickelt und ausgebaut werden. Als niedrigschwelliges Angebot mit hoher Transferrelevanz ermöglichen sie Studierenden, Grundlagenwissen und Geschlechterkompetenz zu vermitteln.
- Der WR hält es für entscheidend, Geschlechterforschung auch im Studienangebot der jeweiligen Disziplinen angemessen zu verankern. Dieses Angebot sollte neben spezifischen Studiengängen und Zertifikatsprogrammen der Geschlechterforschung existieren.
- Eine Doppelbetreuung von Promovierenden und fachlich breiter angelegte Promotionsprogramme sind geeignet, um der Verankerung in einer spezifischen Disziplin und in der Geschlechterforschung gerecht zu werden.
- Die Einwerbung von und die Mitarbeit in größeren Verbundforschungsprojekten sollte intensiver vorangetrieben werden. Innovative Anstöße können durch die Vernetzung erhalten sowie weitergegeben werden und die Internationalisierung ausgebaut werden.
Verlässlicher Schutz angesichts von persönlichen Angriffen
Gender ist ein Thema, das „im Moment in der Öffentlichkeit und auch in der Politik, in einzelnen Teilbereichen intensiv und zum Teil auch sehr kontrovers und emotional diskutiert wird“ (Wick, ab Min. 4:30). Weil Geschlechterforschung den Menschen in ganz unmittelbarer Weise betreffe, sei in diesem Feld gute Forschung besonders wichtig; dies sei das Ziel der Empfehlungen. Das Forschungsfeld, Forschende und Studierende „sind häufig einem erheblichen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, der bis zur persönlichen Diffamierung reicht“, so ergänzt Szöllösi-Janze (ab Min. 19:05). Der WR empfiehlt angesichts dessen den Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen, den Forschenden und Studierenden einen verlässlichen Schutz zu bieten. Diesen Appell weitet Katharina Fegebank (Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg und Senatorin für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke, ab Min. 21:35) auf den politischen Raum aus. Wissenschaft bedeute, unabhängig, frei, mit Distanz zum Forschungsobjekt und ergebnisoffen zu forschen.
Gegenstandsbereich
Der WR fordert eine klare Unterscheidung der Geschlechterforschung von Gleichstellungsmaßnahmen und -politik. Dabei hält er für ersteres fest: „Die Geschlechterforschung untersucht mit unterschiedlichen Theorien und Methoden, auf verschiedenen Ebenen und für verschiedene gesellschaftliche Bereiche, Epochen und Kulturen, was unter der Kategorie Geschlecht zu verstehen ist, wie sich Geschlechterverhältnisse konstituieren und ausgestalten sowie welche Relevanz – auch in historischer Perspektive und in verschiedenen sozialen Zusammenhängen – Geschlechterdifferenzen, Geschlechterrollen und Geschlechteridentitäten für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft haben.“
Er verweist auf die Notwendigkeit, „die Geschlechterforschung als breites Forschungsfeld zu begreifen, das nicht von einer einzelnen Disziplin bearbeitet werden kann, sondern multidisziplinär und im Idealfall auch inter- und/oder transdisziplinär aufgestellt sein muss“ (WR 2023: Empfehlungen, S. 13f.). Die Geschlechterforschung als wichtiges disziplinenübergreifendes Forschungsfeld decke dabei ein breites thematisches Spektrum von der Grundlagen- bis zur anwendungsorientierten Forschung ab. Hier unterscheidet der WR trotz fließender Übergänge zwischen zwei Perspektiven der Geschlechterforschung: Im engeren Sinne sei es eine Forschung, die die Kategorie Geschlecht selbst zum Thema und Untersuchungsgegenstand macht. Im weiteren Sinne sei es dagegen eine Forschung, in der „Geschlecht als integrale Perspektive und Analysekategorie bei der Behandlung aller Themen verstanden (wird)“ (S. 15)
Viele Kriterien von Disziplinarität seien inzwischen erfüllt, u.a. existieren Formen der Institutionalisierung wie Zentren an Hochschulen, Professuren, Studiengänge auf Bachelor- und Masterebene, Graduiertenkollegs, eine Fachgesellschaft, eigene Publikationsorgane sowie „eine teilweise Kanonisierung des Wissens“ (S. 16).
In einer Doppelstrategie werde die Etablierung der Geschlechterforschung als eigenständige Disziplin forciert ohne die Verankerung in etablierten Disziplinen zu vernachlässigen. Auch wenn Geschlechterforschung primär in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften vertreten ist, können „Geschlechterperspektiven (…) grundsätzlich in allen Disziplinen vertreten sein und sind es in den meisten auch – mit je unterschiedlichen Etablierungsgraden“ (S. 16).
Desiderate in Bezug auf Geschlechterforschung zeigen sich v.a. in den Natur-, Ingenieur- und Technikwissenschaften inklusive Informatik, aber auch in Teilen der Sozial-, Verhaltens- und Geisteswissenschaften (z.B. Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Philosophie). Dennoch zeigen sich in den Ingenieur- und Technikwissenschaften wie auch vor allem in Teilen der Lebenswissenschaften und der Medizin vielversprechende Ansätze, die geschlechterwissenschaftliche Perspektiven berücksichtigen z.B. unter dem Stichworten „Gendered Innovations“ oder geschlechtersensible Medizin.
Die Unterstützung der Berücksichtigung von Geschlechterdimensionen in MINT-Disziplinen hat das Braunschweiger Zentrum für Gender Studies (BZG) für die TU Braunschweig in einem BMBF-finanzierten Projekt 2022 fokussiert. Warum die Prüfung der Relevanz von Geschlechterdimensionen wichtig ist, führt Juliette Wedl in einem Interview aus.