Ein Rückblick auf die „Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt“
Die heutige Online-Veranstaltung „Ozeanisch Schreiben. Ein Dialog in vierter Dimension“ nutzen wir, um einen abschließenden Blick auf die Bedeutung unserer Poetikdozentur, auf die Vielfalt der Preisträger*innen und deren literarische Geschlechterdimensionen zu werfen. Ozeanisch Schreiben ist der (vorerst) letzte Akt einer intensiven Auseinandersetzung des Braunschweiger Zentrums für Gender Studies mit Literatur in Form der Poetikdozentur.
„Gender“ in der „literarischen Welt“ muss immer neu erfunden werden.
Dazu hat die Ricarda Huch Poetikdozentur 2015-2020 beigetragen. Dabei ist die Namensgebung kein Zufall.
Was die Poetikdozentur auszeichnet
Sieben Jahre sind seit Gründung der „Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt“ vergangen, und es ist Zeit für ein abschließendes Fazit. Auf Anregung von Jan Röhnert, Professor am Institut für Germanistik und in enger Zusammenarbeit mit dem Braunschweiger Zentrum für Gender Studies, der Stadt Braunschweig, der Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Braunschweig und dem Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte entstand das Konzept einer Poetikdozentur neuartigen Zuschnitts. Dieses Konsortium hatte erstmalig in der Geschichte deutscher Poetikdozenturen und -professuren den Mut, einen Schwerpunkt auf das Thema „Gender“ zu setzen.
Die zweite Besonderheit der Poetikdozentur bestand darin, dass sie die übliche Kombination von Preisverleihung und öffentlichen Vorlesungen mit einem Lehrauftrag für kreatives Schreiben verband. Auf diese Weise wurde nicht nur die allgemeine, literarisch interessierte Öffentlichkeit der Stadt und der Hochschulen angesprochen. Die Dozentur bot zusätzlich Studierenden die Chance, den Preisträger*innen ‚in den Kochtopf‘ zu schauen und an einem Kurs für kreatives Schreiben teilzunehmen.
Was Ricarda Huch mit „Braunschweig“, „Poetik“ und „Gender“ verbindet
Ricarda Huch, Namensgeberin der Dozentur, inspirierte den Preis in mehrfacher Hinsicht: 1884 in eine bürgerliche Braunschweiger Familie geboren, hat Huch Gender-, Genre- und Geschlechtergrenzen überschritten. Sie hat sich die Freiheit genommen, sich zu verlieben statt verheiratet zu werden, zu studieren statt zu sticken. Das Verfassen historischer Arbeiten in gewohnten Buchformaten wurde Frauen nicht zugestanden, weshalb Huch buchlange Essays oder Romane schrieb. Dass „Gender“ in der „literarischen Welt“ immer neu erfunden werden muss: als Geschlecht, als Gender, als Genre, zeigen uns ihre Biographie und ihre Werke.
Die sechs Preisträger*innen
Die Preisträger*innen der Braunschweiger Poetikdozentur repräsentieren daher nicht zufällig ein breites Spektrum von Genres.
Kristina Maidt-Zinke (2015) und Annette Pehnt (2016)
Kristina Maidt-Zinke als Literaturkritikerin und Essayistin machte 2015 mit ihren Vorlesungen, die sich v.a. dem Werk von Ricarda Huch und somit der Namensgeberin der Poetikdozentur widmeten, den Anfang. Der Roman „Chronik der Nähe“ der 2016 geehrten Annette Pehnt beleuchtet ein fast schon klassisches Drei-Generationen-Thema aus weiblicher Sicht, aber auch Pehnts andere, sprachlich stark verknappte und ein schreibendes Subjekt/sujet über Geschlechtergrenzen hinaus schiebende Bücher experimentieren mit Genres, wie etwa ihr „Lexikon der Angst“ oder die Kurzgeschichtensammlung mit dem Titel, der als ein einziges Wort gelesen werden sollte: „Mankannsichauchwortlosaneinandergewöhnendasmussgarnichtlangedauern“, ein Kaleidoskop von ungewohnten Subjektpositionen in außerordentlichen Umgebungen, von Geschichten mit Anfang und Ende, aber ohne Konklusion, ability studies wäre vielleicht die Kategorie dafür. In ihren Vorlesungen ehrte Pehnt ihre Vorbilder, was sich in dem Buch „Als sei nun alles klar“ nachlesen lässt.
Marica Bodrožić (2017) und Uljana Wolf (2018)
Marica Bodrožić, die dritte Preisträgerin 2017, ist ebenfalls eine Autorin, die viele verschiedene Genres bespielt und mit ihnen spielt. Lyrik, Essay, Reportage, daneben Romane. Nicht nur „Mein weißer Friede“ erzählt die Vernetzungen von Gender, Krieg und Migration, von kulturellen Dissonanzen, die Funken schlagen, schmerzlich und utopisch. Bei Uljana Wolf war 2018 das ganze große Reich der Verkürzung, des Radierens und des Übersetzens zu entdecken. Eingeladen war sie zunächst als Lyrikerin und Übersetzerin, die zwischen den Sprachgrenzen wechselt. Ihr zartironisch geklöppelter Gedicht-Zyklus zu Berta Pappenheim oder derjenige zu Shakespeares Sprechen über sexualisierte Gewalt in „Titus Andronicus“ haben uns in jenem Semester begleitet. Aber wir konnten auch ihre Analysen und theoretischen Überlegungen zu Prosagedichten entdecken, und wir finden heute in ihrem Essay- und Redenband „Etymologischer Gossip“ eine Spur der Braunschweiger Vorlesungen.
Thomas Meinecke (2019)
Das Genre der Poetikdozentur hat sich durch Meineckes Vorschlag, mit Menschen aus dem Kreis der Einladenden zu diskutieren, nochmals verändert. Davon zeugen das Gespräch am 15.12.22 und das Buch „Ozeanisch Schreiben“, das er zusammen mit drei seiner Diskussionspartner*innen geschrieben hat. Die Gespräche haben die Beteilitgten umso lieber geführt, als im Werk von Thomas Meinecke noch einmal andere Trans-gressionen erzählt werden: Hier werden Elemente der Literatur, der Pop-Kultur, der Mode daraufhin befragt, wo sie Geschlechtergrenzen überschreiten oder hinter sich lassen, und es zeigt sich, dass selbst in einer Gegenwart, in welche die Kollusion von Geschlecht und Macht immer noch eingeschrieben ist, sich die Zeichen mehren, dass das Nicht-Binäre längst unter uns ist. „Geschlecht“ als Grenze ist hier im doppelten oder dreifachen Wortsinn „abgeschrieben“: kopiert, bezahlt, beendet oder gut hegelsch ausgedrückt: dreifach „aufgehoben“.
Sasha M. Salzmann (2020)
Sasha M. Salzmann bekam 2020 den Preis sowohl für ihre Arbeit als Dramatikerin als auch für „Außer sich“, ihren ersten Roman, der gerade erschienen war. Aufgehoben werden Grenzen zwischen Geschlechtern, Individuen, Kulturen, es geht um Rave und Rebellion, um coming out als Prozess ohne festlegendes Ende, die Gestaltung eines Ich/Du als brüderlicher Zwilling, reisend die Identität als Fremde erzählend, aushaltend, für uns lesbar machend. Durch den Lock-Down war diese Dozentur auf digitale Formate angewiesen, vielleicht war es ein Trost, dass das mit Thomas Meinecke entwickelte dialogische Prinzip auf das neue Medium übertragbar war und ein zahlreiches Publikum fand. Die Salzmann-Gespräche sind weiter im YouTube-Kanal der TU Braunschweig einsehbar.
Was bleibt
Neben diesen Filmaufnahmen der Gespräche mit Sasha M. Salzmann gibt es somit von Annette Pehnt, Marica Bodrožić und Thomas Meinecke je eine Erinnerung an Braunschweig in Buchform. Auch die abschließende Diskussion wird langfristig im YouTube-Kanal der TU Braunschweig zur Verfügung stehen, sodass die Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt deutliche Spuren hinterlässt.
Ozeanisch Schreiben zum Abschluss
Unsere Poetikdozentur mit dem Schwerpunkt Gender wird mit einer letzten Veranstaltung abgeschlossen: Am 15.12. treffen sich Carolin Bohn, Thomas Meinecke, Regina Toepfer und Bettina Wahrig im digitalen Raum und sprechen noch einmal über ihre Erfahrungen mit den Dialogen, dem gemeinsamen Schreiben und überhaupt darüber, wie es auch in Zukunft möglich sein kann, ozeanisch – über Grenzen hinweggehend, lustvoll und vielstimmig – zu sprechen und zu schreiben.
Das oben stehende Statement von Bettina Wahrig findet sich aktuell in den News der Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte.