MedienBar (6): Verfolgung queerer Menschen im Nationalsozialismus

Materialien zum Thema aus Anlass der Gedenkstunde im Bundestag

Vektorgrafik mit diversen MedienAm 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiuung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau 1945, gedenkt der Deutsche Bundestag alljährlich den Opfern des Nationalsozialismus. In diesem Jahr, 78 Jahre nach der Befreiung, wird erstmals der Fokus der Gedenkstunde auf Menschen liegen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität Opfer der Verfolgung durch die Nazis wurden. Zu diesem Anlass haben wir Materialien zusammengestellt, die die Geschichte der Verfolgung queerer und queer-jüdischer Menschen dokumentieren.

Wenn am 27. Januar 2023 die Gedenkstunde im Deutschen Bundestag stattfindet, gibt es „Späte Genugtuung für die LGBTQI-Community“ wie die Jüdische Allgemeine ihren Beitrag hierzu betitelte. Dass es ein langer Weg war, bezeugt ebenfalls das Interview des NDR mit dem Historiker und Schriftsteller Lutz van Dijk (Dauer 25:57 Min), indem er von der Petition an den Bundestag zu einer ebensolchen Gedenkstunde berichtet, die er 2018 mitinitiierte.

Queer-feministische Holocaustforschung

Auch die Holocaustforschung selbst bedurfte eines „Cultural Turn“ und bezieht seit einigen Jahren zusehends Geschlechterperspektiven in ihre Forschung mit ein. Dies erläutert Dorota Glowacka, Professorin an der University of Halifax (Kanada), in einem Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung (Dauer 5:31 Min). Queer-feministische Holocaustforschung ermöglicht somit eine intersektionale Betrachtung der Verfolgung, die sich in den Biografien einzelner Personen sowieso verschränkt.

Sexualität als Teil der Geschichte des Holocaust zu begreifen, damit setzte sich eine aufgezeichnete Podiumsdiskussion „Holocaust, Sexualität, Stigma: Warum eine Sexualitätsgeschichte des Holocaust?“ (Dauer 74:12 Min) im Berliner Gorki Theater am 8. Dezember 2017 auseinander.

Verfolgung Homosexueller unter verschärftem §175

Der Paragraph 175 stand schon vor der Nazi-Zeit im Strafgesetzbuch, wurde 1935 jedoch noch einmal verschärft. In dieser verschärften Fassung blieb er in Westdeutschland bis 1969 erhalten und fand auch weiterhin Anwendung zur Verfolgung zumeist homosexueller Männer. Die Geschichte des Paragraphen 175 hat der Lesben- und Schwulenverband (lsvd) auf seiner Seite dokumentiert.

Außerdem gibt es Interviews mit Betroffenen wie das von Wolfgang Lauinger, die eindrucksvoll schildern, was es hieß als sogenannter „175er“ verfolgt zu werden. Sein Nachlass hat nun als „Lauinger Archiv“ eingang in das Jüdische Museum in Frankfurt am Main gefunden, wo es für Forschung und Bildungsprojekte zugänglich ist. Zeitzeug*innenberichte finden sich auch in der Dokumentation „Paragraph 175“ (1999, zum Trailer).

Dass die Verfolgung eben nicht nur schwule Männer betraf, wie es der vergeschlechtlichte Paragraph 175 vermuten lässt, der explizit „Unzucht zwischen Männern“ unter Strafe stellt, wurde verschiedentlich aufgearbeitet. Die Magnus Hirschfeld-Stiftung hat ausgehend von einem Vortrag von Martin Lücke den Aufsatz „Die Verfolgung lesbischer Frauen im Nationalsozialismus. Forschungsdebatten zu Gedenkinitiativen am Beispiel
des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück“ auf ihrer Webseite zur Verfügung gestellt.

Verfolgung von trans* Personen

Die Aktualität einer Auseinandersetzung mit der Verfolgung unterschiedlicher Gruppen im Nationalsozialismus zeigte sich im vergangenen Jahr, als die Historikerin Dana Mahr Drohungen erhielt, weil sie über trans* Personen im Dritten Reich berichtete (unsere Solidaritätsbekundung mit wissenschaftlicher Einordnung der trans*feindlichen Debatte findet sich hier). Eine weitere historische Einordnung zur Verfolgung von trans* Personen wurde von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti) veröffentlicht.

Einen Überblick über die weitreichende Literatur zum Feld wurde auf dieser Seite zusammengetragen, die eine beachtenswerte „Bibliography on lesbian and trans women in Nazi Germany“ bietet.

Queer und jüdisch sein

Anna Hájková beschäftigt sich in dem Aufsatz „Queere Geschichte und der Holocaust“ mit dem Phänomen, dass „der verfolgten Homosexuellen fast immer als Nichtjuden, der jüdischen Opfer als heterosexuell gedacht [wird]“ und plädiert für eine Verschränkung der Perspektiven.

Auch Monty Ott setzt sich mit der These „queere Jüd*innen wurden aus den deutschen Erinnerungsnarrativen verdrängt, weil sie einen unauflösbaren Widerspruch im Legitimationsmechanismus Nachkriegsdeutschlands darstellten“ auseinander. Ott plädiert für die Wahrnehmung des jüdischen Lebens in seiner ganzen Vielfalt, wozu eben auch die Verschränkungen zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt gehören.

Dass dies ein Thema blieb, zeigt der lesbisch feministische Schabbeskreis, der in den 1980er Jahren eine jüdische Perspektive in den Mittelpunkt feministischer Debatten rückte und den Antisemitismus innerhalb der Frauen- und Lesbenbewegung thematisierte. Umfangreiches Material hierzu findet sich auf der Seite des Digitalen Deutschen Frauenarchivs.

Archive zur Aufarbeitung der Verfolgung im Nationalsozialismus

Die Arolsen Archives als internationales Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus geben auf ihrer Webseite u.a. Einblick in die Verfolgung queerer Menschen. Hier finden sich auch Berichte zu einzelnen Personen wie bspw. Rudolf Brazda, der das Konzentrationslager Buchenwald überlebte.

Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus an der Technischen Universität Braunschweig

Am Freitag, 27. Januar 2023, dem bundesweiten Gedenktag, erinnert die TU Braunschweig an alle Opfer des Nationalsozialismus. Bei der hochschulöffentlichen Veranstaltung an der Stolperschwelle vor dem Altgebäude um 13 Uhr werden nach einer kurzen Ansprache der Präsidentin Angela Ittel und studentischen Vertreter*innen Blumen niedergelegt und in einer Schweigeminute der Opfer gedenkt.  

MedienBar

Wir bringen seit Oktober 2022 in unregelmäßigen Abständen in dieser Serie MedienBar Beiträge, in denen wir multimediale Materialien zu queer-feministischen Themen vorstellen.

Wenn Sie Material zu einem bestimmten Thema suchen oder entsprechende Tipps für uns haben, schreiben Sie gerne an Katja Barrenscheen.

Bisher erschienen
MedienBar (1): Gender-Mediathek
MedienBar (2): Willkommen im Club
MedienBar (3): Geschlechtliche Selbstbestimmung
MedienBar (4): Religion, Geschlecht und Sexualität
MedienBar (5): Geschlechtergerechte und queerbewusste Sprache